Reportage in der Rems-Zeitung, 19. März 2016
Reporterin: Nicole Beuther
Vom Leben in einer eigenen Welt
57 Mitarbeiter kümmern sich in der Villa Rosenstein in Heubach um 60 Demenzerkrankte
Ganz plötzlich sind sie wieder da. Jene Schübe, die dazu führen, dass sich die Frau in Gedanken mit einem Mal wieder in der Vergangenheit findet. Jener Zeit, in der sie als Mutter und Hausfrau allerhand zu erledigen hatte und sich der Tag nach der Uhr richtete. Immer, wenn es soweit ist, dann muss die Frau zur Post, ins Rathaus oder nach Hause.
HEUBACH. Ein Zuhause, das es längst nicht mehr gibt. Die Frau, knapp über 70 Jahre alt, ist dement und Bewohnerin der Villa Rosenstein in Heubach. Es ist ein Moment wie so oft. Die Mitarbeiter hier kennen ihre Geschichte, wissen mit solchen Situationen umzugehen. Es sei wichtig, die Frau – in eben jenen Momenten davon überzeugt, Hausfrau und Mutter zu sein – zu siezen, erklärt Marisol Pohl, die Leiterin der Einrichtung. Anders könne die Bewohnerin nicht dazu gebracht werden, den Gang zum Rathaus oder ähnliches auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Die Mitarbeiter kennen die Lebensgeschichte jedes einzelnen Bewohners. Auch Details sind wichtig, um das heutige Verhalten zu verstehen. Dass eine Bewohnerin beispielsweise während der Mahlzeiten sehr oft damit beginnt, ihren Teller in Richtung der Anderen zu schieben, heißt nicht etwa, dass es ihr nicht schmeckt. Das ganze rührt vielmehr daher, dass sie einst als Älteste von vier Mädchen – die Mutter war krank – ihre Schwestern großzog und darauf Acht gab, dass jede ausreichend zu essen hatte. Die Frau hat vieles vergessen von all dem, was in den vergangenen Jahren, Monaten oder Tagen passiert ist. Sich zu kümmern und mit anderen zu teilen ist jedoch etwas, was sich fest in ihrem Gedächtnis verankert hat.
Die Pflegekräfte der Villa Rosenstein sind längst daran gewohnt, dass die Bewohner vieles vergessen. Marisol Pohl spricht von einem „langsamen Zerfallen“. Es sind die kleinen Dinge, die den Frauen und Männern diesen letzten Lebensabschnitt so angenehm wie möglich gestalten. Die Wärmflasche oder die Bettsocken am Abend gehören dazu. Ebenso die Herzsprache, die hier ein täglicher Begleiter ist – von den Morgen- bis in die Abendstunden. Was damit gemeint ist, wird offensichtlich, als sich eine Bewohnerin neben die Heimleiterin setzt und ihr leise etwas zuflüstert. Pohl erwidert das Gesagte mit liebevollem Blick, flüstert zurück. Immer wieder fällt das Wort „Püschel“. Damit bezeichnet die Bewohnerin alle möglichen Gegenstände. Die Pflegekräfte verstehen und nicken ihr freundlich zu, wenn sie aufsteht und geht, um einen „Püschel“ zu holen. Sehr große Bedeutung haben in der Einrichtung auch die täglichen Rituale. Das Kämmen der Haare und das Streicheln der Hände gehört dazu. Unvergessen auch das über lange Zeit gepflegte Ritual einer Bewohnerin, die mit größter Fürsorge täglich den Kaffeesatz über die Blumen im Garten goss.
Um zu verstehen, was Marisol Pohl einst bewegt hat, auf dem Gelände der Villa Spießhofer eine Einrichtung für Demenzerkrankte zu bauen, lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit Anfang der 90er. Eine Zeit, in der im Bereich der Pflege und Betreuung noch andere Ansätze galten. Ansätze, die mit den Gedanken von Pohl, sich der Welt der dementen Menschen anzupassen, nicht übereinstimmten. Die in Deutschland gängigen großen Pflegehäuser mit langen Gängen sowie die gemeinsame Pflege von Menschen mit und ohne Demenz widersprachen ihrer Vorstellung einer individuellen Pflege. Pohl: „Für mich war immer klar, dass demente Menschen eine andere Welt brauchen. Man muss sie da abholen, wo sie sich befinden.“
Sie haderte mit ihrer Entscheidung und brach ihre Ausbildung als Altenpflegerin, begonnen hatte sie 1989, nach zwei Jahren ab. Ein halbes Jahr wanderte die junge Frau anschließend durch Indien. Und was als eine Art Selbstfindungstrip mit Rucksack begann, wurde letztlich eine Reise, die sie darin bestärkte, den von ihr eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Drei Monate lebte sie als Gast in einem Sterbehaus in Kalkutta. „Diese Zeit hat mich sehr geprägt“, sagt Pohl heute.
Zurück in Deutschland setzte sie ihre Ausbildung in Limbach im Odenwaldkreis fort und arbeitete auf einer Station, in der Menschen mit und ohne Demenz zusammenlebten. Etwas ändern, um das Wohlbefinden für alle Bewohner zu steigern, setzte sich die Altenpflegerin sehr früh zum Ziel. „Eine geschlossene Einrichtung bedeutet Freiheit für den Dementen“, erklärt Pohl den Gedanken, den sie damals schon verfolgte. Und mit dem sie zunächst alleine war. In der Schweiz und in den Niederlanden gab es solche Einrichtungen bereits, nicht aber in Deutschland. Pohl wollte mehr über diese Pflegeansätze lernen, es folgte eine Gerontopsychiatrische Weiterbildung.
Ein besseres und individuelles Leben für Menschen mit Demenz zu ermöglichen – ein Wunsch, der mit dem Fachzentrum Villa Rosenstein dann Wirklichkeit wurde. Nicht möglich gewesen wäre all das, wenn Günther Spießhofer nicht gewesen wäre. Dieser, begeistert von der Idee, hatte durch die uneigennützige Überlassung des Grundstücks mit Villa und Parkanlage wesentlich zum Gelingen des Vorhabens beigetragen.
Mit einer kleinen Tagesgruppe fing im Jahr 2008 dann alles an. Geschaffen wurde eine Wohnform, die sich als Wohn- und Lebenswelt der Bewohner versteht und in der sämtliche Mitarbeiter lediglich als Begleiter der dort lebenden Menschen tätig sind. Durch den Neubau war es dann möglich, sich den Bedürfnissen der Bewohner voll und ganz anzupassen.
Psychopharmaka und dergleichen kommt hier nur sehr selten zum Einsatz. Vielmehr ist es der Leitung wichtig, sich an einem bestimmten Konzept zu orientieren. Hierzu gehört die völlige Wertschätzung einer Person; ebenso Zeit, Aufmerksamkeit und Fürsorge.
Wie individuell auf die einzelnen Bedürfnisse eingegangen wird, zeigt sich bereits zu Beginn des Tages. Während die ersten Bewohner bereits um kurz nach fünf Uhr ihren Kaffee trinken, schlafen andere bis um zehn. Eine Frau frühstückt nie, sie hat ihr ganzes Leben nicht gefrühstückt.
Und dann gibt es noch die Bewohnerin, die – noch Brösel um den Mund – längst wieder vergessen hat, dass sie bereits gegessen hat. „Ich habe noch gar nicht gefrühstückt“, sagt sie dann. „Doch, Du hast schon gefrühstückt“ ist ein Satz, der hier nicht fällt. Stattdessen bekommt die Frau mit einem liebevollen Lächeln ein weiteres Frühstück, einen Joghurt oder etwas Obst. „Manche frühstücken drei- bis viermal am Tag“, lächelt Pohl. Mit Demenzerkrankten zu diskutieren sei Quatsch.
Auch wenn die Bewohner die Pflegefachkräfte nicht immer sofort zuordnen können, ist es doch oft der Klang der Stimme, der ihnen ein beruhigendes Gefühl vermittelt, ein Gefühl von Heimat. Wichtig sei es, so Pohl, dass das Gesagte stets auch zum Gefühl passe. Etwas, was bei den Dementen immer der Fall ist. So sagt Pohl, die es eine Wohltat nennt, mit den Bewohnern zu arbeiten: „Demente haben keine Maske.“
Villa Rosenstein
57 Mitarbeiter kümmern sich in der Villa Rosenstein derzeit um 60 Bewohner, die Älteste ist 101 Jahre alt, die jüngste 52. In der Villa Rosenstein gibt es vier Wohngruppen, in denen die Bewohner je nach Schweregrad ihrer Demenz untergebracht sind. Jeder Wohnbereich verfügt über ein Bad, eine Küche sowie ein Esszimmer und einen Wohnbereich. Für die gezielten Therapien stehen im Haus Musik-, Tanz-, Mal- und Gartentherapeuten zur Verfügung. Alle Mitarbeiter – hierzu zählen Pflegefachkräfte, Hauswirtschaftskräfte, Heimleitung und Hausmeister – werden regelmäßig geschult.